„Du hast wirklich viele Fenster!“, staunte Jan, der noch nie zuvor eine so große Wohnung gesehen hatte, in der jemand allein wohnte. Sascha hatte es sich auf einem flachen Sessel mit Holzlehnen gemütlich gemacht und wirkte ein wenig wie ein Schriftsteller. Der schrabbelige Holzfußboden, die mit Büchern vollgestellten Regale und die wenigen, aber alten Möbel verliehen der Wohnung einen charmanten Charakter, und dazu kamen noch die vielen Fenster.
„Findest du?“, erwiderte Sascha und schenkte beiden aus einer Rotweinflasche in zwei Gläser ein. Er prostete Jan zu. Sie kannten sich erst seit ein paar Wochen, und Jans Besuch in Saschas Wohnung im Berliner Wedding beruhte auf gegenseitiger Sympathie und der gemeinsamen Arbeitserfahrung. Jan nahm einen viel zu großen Schluck aus seinem Glas und realisierte erst jetzt die genaue Geometrie und die Details von Saschas geräumiger Wohnung. Bad, Wohnzimmer und Schlafzimmer erstreckten sich entlang einer Seite der Wohnung und hatten insgesamt acht Fenster. Doch trotz seiner anfänglichen Begeisterung über die großzügige Fläche der Wohnung fielen Jan auch ihre Mängel auf.
„Ist das die Nordseite?“, fragte er, um höflich zu sein, und verschwieg dabei ein weiteres offensichtliches Problem. Eine Wand – groß, dreckig und schlecht verputzt – füllte das gesamte Panorama aus. Grau, verrußt, dreckig, Keine Fenster, nichts!
„Ja, das ist die Nordseite. Im Winter ist es sogar noch grauer!“, erklärte Sascha und machte es Jan damit leicht.
Mit dem Glas in der Hand stand Jan auf und schaute in die Finsternis hinab. Keine Fenster nach oben oder unten, nur eine hässliche Wand, die sich unten in einen düsteren, schlammigen Hof auflöste. Jan meinte, schemenhaft die Umrisse von Mülltonnen zu erkennen. Sprachlos starrte Jan in die Tiefe und dann zur gegenüberliegenden Wand.
„Nun ja, immerhin kann hier niemand hereinschauen. Und du wirst nicht wie ich jeden Morgen von einer Baustelle geweckt…“, Jan versuchte nett zu sein und bemerkte dabei, wie unhöflich er sich als Gast verhielt.
Er hatte eine gute Erziehung genossen und in seiner Kindheit reichlich Ausblick und Himmel gehabt. Solch eine Mauer hatte er noch nie gesehen.
„Ja, es hat auch seine Vorteile…“, meinte Sascha diplomatisch und verschwand in der kleinen Küche auf der anderen Seite der Wohnung. Jan drehte sich um und der Holzfußboden knarrte. Goethe, Kafka, Tucholsky… Was hatte Sascha nochmal studiert? Jan erinnerte sich vage daran, dass Sascha davon gesprochen hatte, aber er
hatte wie immer nur die Hälfte behalten. Und er konnte die Literatur nicht so recht mit Saschas ständigen Telefonaten in Verbindung bringen. Ständig war Sascha am Telefonieren, wenn er nicht gerade Texte in die Tastatur hackte. Oft tat er auch beides gleichzeitig. Bei der Vorstellungsrunde hatten sie von Beratung gesprochen. Sascha war Berater, so hatte Jan es abgespeichert. Sascha kam aus der Küche zurück, ein Tablett mit seltsamen Keksen in der Hand.
„Hier, das sind welche vom Türken an der Ecke…“, sagte Sascha und zeigte auf das Tablett. Er war ein perfekter Gastgeber.
„Hast du sie alle gelesen?“, fragte Jan und griff nach einem der grün glitzernden Kekse. Er schaute in das nächste Regal, das voller alter Bücher stand. Obwohl er viel gelesen hatte, gab es in Bezug auf die Klassiker Lücken in seinem Wissen. Diese Sammlung glich fast einer Bibliothek, und Jan fühlte sich ein wenig unsicher.
„Ja, eigentlich schon“, antwortete Sascha und setzte sich wieder auf seinen Platz am Fenster. Er hob sein Glas zum Toast.
„Lass dich davon nicht einschüchtern. Die Hälfte davon ist alter Käse. Prost!“
„Zum Wohl…“
Sascha hatte einen guten Schluck genommen und Jan noch einmal nachgeschenkt. Jan gönnte sich ein zweites grünes Stückchen und trank von dem leckeren Rotwein. Die graue Wand beobachtete sie, während sie aufeinander anstießen, und langsam wurde es in der ohnehin schon dunklen Wohnung immer dunkler.