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Schlagwort: Kickern

  • Kapitel 49 * „Rutsche und Bartosch?“


    Rydberg hatte lange nicht mehr diesen Weg gewählt. Manchmal fuhr man eben aber auch nicht selbst, sondern etwas fuhr einen. Er genoss den Blick über die tausend Lichter der Stadt und rollte mit gemächlichen 50 KmH die lange gerade Rampe in den
    südlichen Teil Hamburgs hinab. Das war hier irgendwie fast wie aus Teilen einer Carrera- Bahn gebaut, hatte er einen Augenblick gedacht und merkte, wie sich die Erinnerung an den Kontakt mit den Plastikteilen in seine Erinnerung schob. Brücken, steile Kurven und lange Geraden. So etwas hatte man damals zusammengesteckt und war stundenlang im Kreis darauf herumgejagt. Jetzt bog er ab und fuhr in Richtung Bahnhof. Wilhelmsburg war ein Stadtteil, den man suchen musste zwischen Containern, Fabriken und Brücken. Da wo das “Alte Land” auf die harte, brutale industrielle Realität stieß, von der man auf der anderen Elbseite so wenig mitbekam, lebten ganz normale Menschen.

    Rydberg hatte hier sein Studium und seine ersten Berufsjahre bei der Polizei erlebt.
    Lange war er nicht mehr hier gewesen und vielleicht hatte sich auch alles geändert – aber einige Dinge änderten sich vielleicht auch nie – dachte er als er im Schein eines
    Kneipenschildes ausrollte.
    „Die Kurve”
    Ein Schild wie kein anderes und ein Versprechen. Seit seinem letzten Besuch waren bestimmt 2 Jahre vergangen, ergab eine schnelle Recherche im Kopf. Alles war beim Alten und so musste das bei Stammkneipen auch sein, sonst wären sie ja nie welche geworden. Dass er eine Stammkneipe hatte, musste er wohl irgendwann vergessen haben, dachte Rydberg beim Durchschreiten des dicken Vorhangs hinter der Eingangstür. Viele unbekannte Gesichter doch auch viele Bekannte. Rydberg fühlte sich sofort wie zu Hause. Der Laden war gut gefüllt und es herrschte ein angenehmer Lärm ohne Aggressivität. Man stand, man saß, trank Bier oder anderes und quatschte
    angeregt an allen Ecken. Rydberg schob sich durch die Reihen der Gäste in Richtung
    Tresen. Dahinter stand ein entspannter Endvierziger mit grauen Schläfen, einem trainierten Oberkörper und gepflegten Äußeren und zapfte Pils. Heintje, der eigentlich Rolf hieß, war tagsüber Zahnarzt und abends Barkeeper. Vor zehn Jahren hatte er “Die Kurve” von einem Onkel geerbt und sich sofort entschlossen die alte Traditionskneipe
    selbst weiter zu führen. Des ewigen in kariesdurchzogene Münder Starrens überdrüssig, hatte er die Leitung der Praxis an seine Frau abgegeben und sich der Renovierung der Kurve gewidmet. Natürlich hatte er Rydberg sofort erkannt, als dieser den Raum betrat, denn ein guter Wirt wusste jederzeit, wer und was seine Schwelle überschritt.
    In dem Augenblick als Rydberg sich an den Tresen schob, hatte Heintje eines der frisch gezapften Biere vor ihm auf die Eichenholzplatte gestellt.
    „Ich glaube es nicht!“, der Hüne hinter dem Tresen grinste ein breites Lachen und wischte sich die Hände an einem Handtuch ab. Er winkte einer jungen Dame neben sich, die ihm die anderen Biere abnahm und stützte sich mit beiden Händen auf den
    Tresen.
    „Was macht denn Superbulle in unseren bescheidenen Hallen?“, er streckte Rydberg seine Pranke hin. Rydberg, der geahnt hatte, dass er schon längst auf dem Radar erschienen war, streckte ihm seine Rechte entgegen.
    „Tja – ich musste mal wieder in den Süden – siehst ja wie blass ich bin.“, Rydberg ließ seine Hand durchkneten und schob mit der Linken das vor ihm aufragende Pils bestimmt zur Seite. Alkohol war einmal. Eine schlimme harte Phase seines Lebens, die aber vorbei sein sollte. Heintje hatte die Geste sofort verstanden und das Glas zurück zu den Zapfhähnen gestellt.
    „Einen Espresso?“, Heintje nickte fragend und hatte schon eine Tasse in der Hand.
    Rydberg hatte sich auf einen der Barhocker geschwungen und schaute entlang des gut gefüllten Tresens.
    „Gerne, mit viel Zucker! Ich suche den Bartosch. Treibt der sich hier noch rum?“ Der Name Bartosch war ihm vorhin in den Kopf geschossen, als er am DESY über Photonen und Moleküle nachgegrübelt hatte. Bartosch war Physiker und nicht irgendeiner.
    Rydberg hatte ihn während seiner Zeit in Diensten des Personenschutzes kennengelernt und mit ihm zwei Aufenthalte in der Schweiz erlebt. Was Bartosch damals gefährdete hatte Rydberg nicht verstanden. Bartosch besuchte in Lausanne und Genf Tagungen und war sonst den ganzen Tag in der riesigen Baustelle des CERN
    abgetaucht, in die Rydberg ihn nicht begleiten brauchte. Rydberg hatte auf Staatskosten ein paar sehr schöne Wochen mit viel Freizeit und wenig Arbeit an einem der schönsten
    und ruhigsten Flecken Erde verbracht und sich dabei mit dem Professor angefreundet.
    “Der Bartosch? Ja, der ist wohl gerade am Titelverteidigen.”
    Heintje schwenkte seinen Blick in Richtung des Kickers, der ein bisschen abgesetzt im hinteren Teil der Kurve stand. „Die Kurve“ war das, was man im klassischen Sinne als einen ekligen Laden bezeichnen konnte, aber hier hatten ganz feine Kräfte Unglaubliches geschafft und aus einer 50er Jahre Bruchbude einen feinen ranzigen Luxusladen mit einer gar nicht schlechten Küche geschaffen. Ein Hauch von Pronto hing in der Luft und irgendjemand hatte die erste Van Halen in die Jukebox geholt. Rydberg hatte den Espresso genommen und war in Richtung des Kickers aufgebrochen.
    „Klaus!“
    „Heinz!“
    „Martin!“
    „Heinz!“
    „Matt!“
    „Heinz!“
    „Matt!“
    „Heinz!“
    Das Begrüßungsritual war einsilbig und wortkarg wie schon vor etlichen Jahren. Freitag war nicht nur Bierchenabend, Freitag war Kickermassaker. Hartes Doppel mit Pronto, ohne Handschuh und ohne Anspielen. Streng nach Hamburger Regeln. Kickern war eine Religion. Kickern war eine Sprache. Rydberg freute sich wirklich ein paar der alten Kumpanen zu sehen, hatte aber auch so etwas wie eine Mission. Außerdem knurrte ihm der Magen und er hatte wohl den ganzen Tag wieder mal das Essen vergessen.
    Irgendwas war ja immer.
    „Hallo Jungs. Hallo Bartosch, Dich hätte ich gerne mal gesprochen.”
    Auf der anderen Seite des Kickertisches hatte er Bartosch in der Torwartposition sofort erkannt. Er war irgendwas über 60 und vollständig ergraut, sah aber aus wie ein knackiger Endvierziger und kleidete sich auch so. Bartosch spielte konzentriert mit einem jüngeren Spieler vorne in der Sturmposition zusammen und zog die beiden
    Herren auf dieser Seite des Tisches wohl gerade mächtig ab.
    “Musst mich fordern, wenn Du mich vollquatschen willst.”, Bartosch hatte gerade einen Schuss im gegnerischen Kasten platziert und nahm einen Schluck aus seinem Hefeweizen. Dabei grinste er Rydberg unter der tiefhängenden Billardtischleuchte hinweg herausfordernd an. Rydberg, nicht verlegen, knallte einen Euro auf den Rahmen des Kickers und gab damit seine Antwort.
    “Einen Mitspieler werden wir für Dich auch noch finden.”, grinste Bartosch weiter und knallte ein weiteres Tor durch die löchrige Abwehr der Gegner. Rydberg nutzte die Zeit, um am Tresen einen der fabulösen Bortsche zu ordern. Das war ein Geheimrezept aus irgendwelchen familiären Verstrickungen Heintjes und der absolute Knaller.
    „Fuckadibum!“
    Die Kugel krachte in den Torschacht und entlud ihre kinetische Energie in einer raumgreifende Erotik, die nur echte Männer wahrnehmen konnten. Ein harter Schuss war – ganz klar – ein „harter Schuss“. Ein Bandenschuss war ein „Respektsschuss“.
    Ein langsam über die Torlinie geschobenes Ding war ein „Schwuler Olli“. Nur ein paar Begriffe am Rande. Bartosch und sein junger Mitstreiter, den Rydberg nicht
    kannte, führten haushoch. Thomas, der auf dieser Seite des Tisches im anderen Team spielte, hatte scheinbar wieder einen seiner grobmotorischen Abende erwischt. Seltsam, wie ein ausgebildeter Feinmechaniker, der früher beim DLR in Köln den Marsroboter mitentwickelt hatte, zeitweilig solche Ausfälle haben konnte.
    „Na, Thomas – wieder zu viel Glühwein in der Werkstatt gezischt? “
    „Halt die Fressluke dicht – Du Torfnase!“
    Herzliche Dialoge, wie man sie in der Kurve liebte. Rydberg stand in zweiter Reihe und entdeckte Rübi, den er vorher noch nicht entdeckt hatte. Mit einem kurzen Nicken gab er diesem zu verstehen, dass er ihn als Stürmer haben wollte. Rübi stand wie immer in schwerem Leder, Jeans und Wollsocken an die Wand gelehnt. Rübi sprach nicht viel, grinste selten und man konnte das alles mit seinem früheren Leben als Bassist in einer
    Deutsch-Indie-Band in Verbindung bringen, oder auch nicht. Man munkelte, dass Rübi sich überhaupt nicht mehr für viel interessierte – außer Frauen und dem perfektem Basslauf.
    „5:6“

    Thomas & Heinz verkrümelten sich geschlagen an den Tresen. Jetzt hieß es locker bleiben und hart sein zugleich. Blau stand leer und Bartosch & Jüngling hatten ein
    warmgespieltes Rot auf ihrer Seite. Rydberg zog seine Motorradjacke aus und gab dabei seine beeindruckenden Tatoos zur Schau, die nur von einem engsitzenden T-Shirt bedeckt waren. Er rieb sich die Handflächen warm und ließ den Ball einrollen. Rübi schoss wie schon tausende Mal zuvor einen “straighten Hammer”, den Bartosch jedoch ohne Probleme auffischte. Hier wurde nicht geredet, hier wurde gekickert. Bartosch gab den Ball über die Mittelflanke schräg nach vorne zu Jüngling und so war es an Rydberg das Unvermeidliche zu vermeiden. Noch etwas kalt in den Händen konnte er zweimal blocken bis es „1:0“ stand. Rübi schnaubte und nahm einen Schluck aus seinem Astra. Die Kugel rollte wieder ein und diesmal hatte Rydbergs Elf mehr Glück mit Rübis Donnerschlag aus dem mittleren Fünferspieß. Bartosch, der sich in den letzten 20 Jahren so wenig verändert hatte, wie das Atomgewicht von Sauerstoff – hatte wohl mal wieder Formeln vor dem Kopf, denn dieser Ball ging gerade durch an die Holze.
    „1:1“
    Zack! Jüngling hatte den Ball eingerollt und konterte wuchtig mit einem direkten schwulen Olli über zwei Banden. Rydberg bekam seinen Torwart noch in die richtige Ecke, konnte aber leider ein Abprallen nicht verhindern. Der Nachschlag aus dem gegnerischen Zweiergestirn erfolgte sofort. Kein gerader Schuss, sondern ein über die Ecke geschobener Birdy, der Rydberg leider ein wenig fassungslos und hilflos kichern ließ. Zack!
    „2:1“
    Das ging mal wieder schnell. Gegen Bartosch zu spielen grenzte schon damals in der
    Schweiz an Masochismus. Nur die Qualität seiner Mitspieler entschied über Sieg und
    Niederlage. Rydberg bemerkte wie alte Bewegungsabläufe, die in seinen Muskeln abgespeichert waren, wieder reaktiviert wurden. Das Spiel ging weiter. Schnell, hart und brutal.
    „Dein Bortsch ist fertig, Rydberg! Verlier endlich, sonst wird er kalt! “, Heintje alias Rolf hatte seinen Zwischenruf gut getimed. Gerade hielt Rübi den Ball auf Vorderhand und nahm einen provokativen Schluck aus dem Glas.
    „Wenn ich deinen Drecks-Bortsch gegessen habe, habe ich so wie so verloren! Stell das Ding auf den Tresen und schau mir beim Siegen zu…“
    Rydberg konterte verbal über die Schulter und brachte mit dieser weiteren gezielten Provokation Jüngling ein wenig aus dem Tritt. Zack! Siegen war aber leider gerade nicht drin. Rübi hatte einen ganz schwachen Abend und Rydberg war auch nicht auf der Höhe der Stange. Sie brachten das erste Match in einer rekordverdächtigen Zeit mit „3:6 “ und „4:6 “ über die Runden. Rydberg schlich neben Rübi vom Kicker weg und setzte sich vor seinen heißen Bortsch.
    „Frauenfrust oder was Alder?“
    Viel mehr Gründe für Spielschwäche konnte sich Rydberg bei Rübi nicht vorstellen und vielmehr als ein ausgeschmücktes, grummeliges Ja oder Nein würde er zu dieser Uhrzeit nicht bekommen. Rübi sagte wie immer nichts. Also irgendwas sagte er schon – aber Rydberg verstand es nicht. Eigentlich waren seine Ohren in einer Spitzenverfassung aber Rübis eben nicht mehr. Rübi nuschelte wie Sau, und Rydberg hatte es satt immer nachzufragen. Also versuchte Rydberg es für ihn:
    „Bist Du nicht mehr mit dem süßen Hasen aus Altona zusammen?“, ein austauschbare Schachtelsatz, der so immer funktionierte. Austauschbar war das süß und der Ortsteil von Hamburg, in dem Rübi gerade sein Jagdrevier hatte. Rübi hatte auch schon in London, Dortmund und Köln gejagt, aber das wusste man nur aus seinen Band-Geschichten aus der guten alten Zeit. Das Gerücht hielt sich, dass Rübi eigentlich New Order erfunden hatte, nachdem ihn die Sisters of Mercy verlassen hatten und gleichzeitig in Deutschland… aber das waren Märchen. Musikermärchen – davon gab es so viele wie Bullenmärchen. Egal! Der Bortsch war super und Rydberg hatte lange nicht mehr so lecker gegessen wie eben gerade.
    „Alder, wenn wir so weiterspielen wird das ein trauriger Abend. Reiß Dich doch mal zusammen!“ Gerade hatten Bartosch & Jüngling ihre Nachfolger am Tisch in die Grube geschickt und da die Konversation mit Rübi doch ein wenig steif war, machte es Rydberg auch nichts aus, wieder an den Tisch zu gehen und das stumpfe Schwert des Wortes gegen zwei kugellagergefederte Lanzen der Tat einzutauschen.
    „Ich vorne – Du hinten – bis 3! “ Rydberg hatte Energie in den Adern und wollte es jetzt
    wissen. Kurze, knappe Kommandos wie beim Militär, so musste das sein beim Kickern!
    Er lockerte seine Hüfte, stellte sein Standbein an die richtige Position und wollte es wissen. Rybergs Fünfer machte einen „straighten Knall“ – das heißt sein linker Mittelmann bekam die Kugel nach dem Einrollen direkt auf die Füße und Rydberg schoss mit einer eruptiven Drehbewegung seiner linken Hand den Ball mit ca.170 Kmh ins Tor. In einigen Landesteilen weiter südwärts der Elbe hätte es jetzt eine wilde Schlägerei mit feuchter Aussprache und Anfassen gegeben. Hier in der Kurve spielte man aber straight! Keine Pimperlitzchen und Kinkerfritzchen, wie schon Rydbergs
    Opa gesagt hatte. Jüngling schob das Ding neu ein. Rydbergs Fünfer blockten gut!
    Seine linke Hand hatte einen guten Tag – dachte er – gerade als Jüngling mit einem zweibandigen Mittelslop an ihm vorbei, in das von Rübi nur grobmotorisch bewachte Tor, einschoss.
    „1:1“
    Zack Zack! Ein Schnauben, ein Griff in die Ballluke und weiter ging es.