Rydberg verfluchte die Technik. Er stand in Shorts und Hoodie auf seinem Schurwollteppich und hatte das Bose-Soundsystem mit Steely Dan verkoppelt.
“Peg” von Michael McDonald in der 40. Variante besungen, perlte durch den Raum und schmiegte sich an Wände und Möbel in Rydbergs Loft. Gerade war das genau das Richtige für seine Ohren. Warum hatten die Menschen Smartphones, wenn sie nicht mehr dran gingen – an das phone hinter smart? Weil es smarter war zu texten und asynchron zu kommunizieren? Sicher konnte man heute aus dem Rauschen der Daten, die ein jeder Nutzer dieser Geräte hinterließ, sehr viel genauere Suchprofile erstellen, als jemals jemand zu glauben gewagt hatte. Sicher gab es den Quotienten mit dem man alles berechnen konnte. Heute war ein Mensch und Täter mehr als nur Fingerabdruck,
Haarfarbe, Größe und Gewicht und die Warze auf der Wange. Android oder Iphone, Smart oder Oldschooolphone, Facebook oder Google+, SMS-Schreiber, Handyflatrate.
Die Anzahl der Chatnachrichten, deren Frequenz, die Zeit zwischen den Antworten, Groß-und Kleinschreibung, Nutzung von Smileys, das alles waren feine Nuancen, die aus jedem Kontakt eine digitale Mimik und Gestik machten, die der realen Begegnung ein Pendant gaben. Rydberg hatte noch nicht viel mit Büscheling zu tun gehabt, aber dass dieser sich nicht am Telefon meldete erschien hochgradig seltsam. Der war schon von Berufs wegen ein Telefonierer und mit der Übergabe seiner Handy- und Festnetznummer hatte er sich gegenüber Rydberg als ebensolcher offenbart. Hätte Büscheling ihm Facebook gegeben oder eine googlemail Adresse hätte Rydberg diese Wege auch in Betracht gezogen. Aber das passte nicht zu Büscheling. Rydberg wartete fünf Minuten während er eine Zigarette rauchte, dann drückte er erneut auf die Wahlwiederholung. Ein Dutzend Mal hatte er in den letzten Stunden versucht
Büscheling ans Ohr zu bekommen, aber dieser blieb eine Antwort schuldig. Da ging noch nicht mal eine Mailbox ran. Das machte Rydberg fuchsig und nervös. Er stand inmitten seiner 95 qm Wohnung auf St. Pauli und schaute auf die Dächerlandschaft des naheliegenden Kiezes. Die Wohnung war seine Festung der Einsamkeit und nur selten
war ein anderer Mensch hier länger als zwölf Stunden zu Gast gewesen. Die wenigen Frauen, die diese Marke überschritten hatten, brannten wie Narben eines schlechten Tatoos an der Außenseite seines Herzens. Eine hatte ihm mal ein Brennen am Schwanz beschert. Ein nicht kontrollierter Unfall nach einer durchzechten Nacht – damals als er noch trank. Damals. Rydberg liebte es sauber. In seiner Wohnung einen Krümel zu finden war ein Ding der Unmöglichkeit. Ein schweres Erbe von seinen Eltern. Rydberg hatte Probleme mit einem Problem. Er hasste Dreck. Und er hasste Staub.
Und er hasste Unordnung.
Und er musste putzen.
Das hatte er die letzten sechs Stunden getan. Er war mit einem Taxi der Klinik entflohen – hatte sich nach dem Betreten seiner verlassenen Wohnung direkt ins Bett geschmissen, um dort zwölf Stunden in einem komatösen Albtraum zu verbleiben. Dann war wie an jedem anderen Morgen exakt um 6 Uhr aufgestanden. Da er nicht zur Arbeit musste, hatte er sich in seiner Küche einen Latte Macchiato gemacht und war danach in seiner Abstellkammer verschwunden, wo er sich bis zu den Zähnen mit Putzutensilien eindeckte. Bewaffnet mit Staubmop, Eimer und Wischmob hatte er
anschließend begonnen, den Wohnbereich in den für ihn erforderlichen Zustand zu bringen. Zwar hatte er eine Putzfrau, die notgedrungen in seiner dreimonatigen Abwesenheit eine gewisse Grundreinigung übernommen hatte, aber das war noch weit unter dem Niveau, welches Rydberg für angemessen hielt. Besser man lässt Rydberg ran, dort wo Mutti nicht mehr putzen kann.
Er hatte Gummihandschuhe bis über die Ellenbogen gezogen, Überzieher an seinen Hausschuhen befestigt und trug nur ausnahmsweise keinen Papieroverall, weil er den letzten, bei dem Versuch sich in der Hamburger Innenstadt von einem Dach zu stürzen, zerrissen hatte. Das war vor seinem Ausflug in die burnout-Welt. Lange Geschichte. Keine schöne Geschichte und sie hatte viel mit blonden Locken zu tun, die seine Verlobte dutzendweise in seiner Wohnung verloren hatte, bevor sie verschwand und nur noch vereinzelte Locken übrig waren. Noch längere Geschichte. Rydberg zog fest an seiner Klötze. Das war der einzige Dreck, der in seiner Wohnung erlaubt war auch wenn er sich größtenteils in die Kapillargefäße seiner Lungenflügel einnistete. Penibel strich er die Asche in einen der fünf Design-Aschenbecher, die an strategischen Orten in seiner Wohnung platziert waren, und bewunderte sein Werk. Nachdem er den Boden grundgereinigt hatte, sämtliche Flächen geputzt und die Buchoberseiten in seiner Bibliothek von Staub befreit wusste, hatte er außerdem alle Kabel der Wohnung – welch lästiges Relikt des letzten Jahrtausends – von ihren Kabelbindern befreit. Danach hatte er seinen neu erworbenen BOSE-Zeitgeist-Verstärker, der drei Monate lang bereits verpackt im Flur stand und auf seine Rückkehr wartete, in die Kabelläufe integriert und wieder alles hinter den Schrankelementen unsichtbar werden lassen. Kompliziert war das schon, aber es war auch die Sache wert, wie Rydberg fand. Kein Kabel war jetzt irgendwo zu sehen und der neu hinzugefügte Verstärker gab dem satten Klang seiner Dolby-Surround 5.1 Klangwelt noch weitere Dezibel Volumen. Rydberg war zufrieden und verstaute sämtliche Hilfsmittel in der Abstellkammer. Er schob sich eine neue Klötze in den Mundwinkel. Es ging ihm gut, oder? Bloß keine Selbstzweifel aufkommen lassen und schnell mal die Musik ändern. Steely Dan hatte mehr Ideen in einem Song als mancher Musiker in seinem ganzen Leben, aber jetzt brauchte er etwas raueres. Weniger Ideen und Perfektion, mehr gute, brutale Emotion. Energie. Pure Energie und Pathos. “Placebo” ging da immer und er hatte gerade zwei Titel aus einem der besten Alben der letzten 20 Jahre durchgehört, als die ersten Akkorde von „Follow the cops back home“ ertönten. Rydberg hatte das Warten satt.
Er griff zu seinem Heim-Iphone und wählte. Nach dreimal Klingeln nahm eine junge Stimme ab.
„Büro des Amtsleiters. Söhle am Apparat.”
Rydberg hatte eine ganz alte Nummer gewählt, die er aus unerfindlichen Gründen nie vergessen hatte.
„Rydberg. Hallo. Ist Müggler zu sprechen.”, er gab sich kurz und knackig – was sollte er sich auch groß erklären. „Ehmmm… also Herr Rydberg. Darf ich fragen um welche
Angelegenheit es geht und wie sie zu dieser Nummer gekommen…”
„Ja, dürfen sie – aber ich habe keine Lust. Sagen sie ihrem Boss, Rydberg hätte angerufen und die Nummer auf dem Display schreiben sie sich auf. Danke.”
Rydberg war sich sicher, dass er so am schnellsten an Müggler herankäme, der sich, falls ihm dieses Greenhorn die Nachricht übermitteln würde, sicherlich sofort melden würde.
„Gut, Herr Rydberg… darf ich trotzdem fragen, um was es geht?”
Hier war ja einer von der ganz durchtrainierten Sorte, dachte Rydberg und blies den Rauch seiner Klötze durch die Nase in den Raum.
„Schreiben sie RYDBERG auf einen Hafti und dazu meine Nummer, Jungchen! Und dann kleben sie Müggler das an seine Scheibe. Ich habe auch einmal für euren Verein gearbeitet.”
Rydberg legte auf und bemerkte, dass sein Puls ein wenig in die Höhe gegangen war.
Hatte! Gearbeitet hatte!
Die Anlage pegelte die Musik wieder hoch, die automatisch bei dem Telefonat ausgeblendet worden war, und ein kleiner Brian Molko verfolgte zu einer wunderschön perlenden Gitarre immer noch Polizisten nach Hause und raubte deren Häuser aus. Dieser kleinen Arschkrampe würde er was Hinter die Löffel geben, wenn sie hier bei ihm auftauchen würde. Wenn er dann noch Bulle wäre. Rydberg schwelgte in Sound einer typisch englischen Gitarrenschule und lauschten den Weisen eines jungen Mannes, der viel mehr vom Leben wusste, als sein Aussehen erwarten ließ. Placebo ging einfach immer und versöhnte ihn mit der Welt und allen Frauen darin, auch wenn er von den meisten Damen die Bilder nur noch in blassen sepiafarbenen Abzügen aufrufen konnte.
BANG!
Wie immer von einem leichten Ausfaden des Soundsystems begleitet, erschreckte Rydberg der plötzliche Klingelton seines Festnetzes. Leicht verdattert registrierte er die Nummer auf dem Display der Anlage und griff zum Hörer, den er noch vor einem Song auf die Station gestellt hatte.
„Müggler hier! RYDBERG – was zum Hergott wollen sie?”
Mügglers Stimme war dieselbe wie damals und sein Satzbau schnörkellos wie immer. Rydberg konnte nicht gerade sagen, dass er das vermisst hatte, aber vielleicht konnte er schnell mit einem Telefonat alles mögliche erledigen.
„Hallo Müggler. Ich habe vorgestern einen alten gemeinsamen Bekannten von uns wiedergetroffen. Halb beruflich, halb privat. Er hat mir seine Nummer gegeben – aber ich kann ihn darauf nicht erreichen…”
„Und deswegen rufen sie hier an!…”, Müggler bekam kleine Schaumperlen am Mund, die Rydberg durch das Telefon knisternd platzen hören konnte.
„Es geht um Büscheling.”, Rydberg war auf seinen Fatboy gesunken und hatte nicht vor, das Gespräch länger als nötig zu führen, also spuckte er die wichtigen Fakten schnell raus. Stille! Aber nur ganz kurz.
„Büscheling? Wie kommen sie ausgerechnet auf Büscheling!”, Müggler schnauzte los.
“Ich bin froh, dass er noch lebt, denn wer der aufwacht, werde ich ihm mächtig in den Arsch treten…”
„Aufwacht?”, Rydberg stutzte. Stille. Klicken im Kopf.
„Büscheling hat gestern was abbekommen und kann von Glück sagen, dass er noch in Stücken ist, aber…”, Müggler war sichtlich gestresst und kurz davor Dienstgeheimnisse an einen ehemaligen Mitarbeiter auszuplaudern.
„… aber dass er auch noch seine Auszubildende verliert…”
Ex- Bulle hin oder her, Rydberg war mal einer von Ihnen und einer von den Besten, die es je gab und warum er ausgerechnet gerade heute anrief und Büschelings Namen nannte, machte Müggler angesichts der flauen Fahndungslage sehr neugierig.
„Rudolph? Die habe ich auch kurz kennengelernt…”, Rydberg hatte sich aus dem Fatboy aufgerichtet und streckte sich hinüber zu seinem zweiten Iphone, das an einem der Dutzend Ladegeräte in der Wohnung hing.
„Woher weißt Du das alles?”, Müggler duzte Rydberg, was nur als Zeichen eines nahenden Kontrollverlustes zu werten war.
Ja, woher wusste Rydberg das alles. Das wollte er nicht einfach so preisgeben und es ging Müggler eigentlich auch nichts an. Er hatte innerhalb der letzten drei Tage einige schräge Sachen erlebt und wäre gerne davon verschont geblieben, aber Büscheling war einer seiner ältesten und vielleicht einzigen Freunde, auch wenn sie sich Jahre lang nicht gesehen oder gesprochen hatten.
„Wo kann ich Büscheling sehen?”
Rydberg kannte die Abteilungen sämtlicher Hamburger Krankenhäuser und wusste in welchen Polizisten behandelt wurden.
„Nordberg. Er liegt in Nordberg. Aber Du kommst da nicht alleine rein! Ich bin um 17 Uhr dort. Treffen wir uns vor Station 5.”
Müggler wusste zwar nicht warum er sich innerhalb dieses Gespräches darauf einließ, aber er hatte einen schwerverletzten OHK im künstlichen Koma, eine verschwundene Polizeischülerin, Besuch vom MAD und ein dauerklingelndes Smartphone. Außerdem hatte sich die Presse, die wie in jedem schlechten Film den Polizeifunk abhörte, auch an seine Dienststelle gewandt, nachdem der Feuerwehreinsatz im beschaulichen Lurup am gestrigen Abend einigen Anwohnern nicht verborgen geblieben war.
Zwei verwirrte Männer beendeten ihr Telefonat und keiner war schlauer. Rydberg wollte eigentlich nicht aus dem Haus, nachdem er es sich gerade so gemütlich gemacht hatte. Vielleicht wollte er nie wieder aus dem Haus. Höchstens im Dunkeln oder zum Kiosk an der Ecke. Bei Büschelings Namen machte es aber immer wieder Klick im Kopf, und Rydberg hatte nicht eine Sekunde gezögert zur Garderobe im Flur zu gehen. Nach Nordberg waren es bei guten Verkehr 25 Minuten. Er würde die SR-500 nehmen. Die brauchte dringend wieder mal Bewegung und Rydberg wollte einen schmalen Schatten und hohe Beschleunigungswerte haben falls nötig.